Vom Garten zum Theater
ALLER ANFANG UND …KEIN ENDE
von Christiane Wolff
Eigentlich schlummerte das Theater schon im Garten, das wusste damals der Garten selbst noch nicht. Im Scala hat es dann seinen Anfang genommen. Peter Kratz war schon da. „Kennen Sie mich?“ hieß seine witzige und unglaublich fantasievolle Show, mit der er im Scala damals die Sparte Theater vertrat. Nach dem Scala-Gastspiel einer Inszenierung von Christiane Wolff brachte Thomas Rothacker die beiden Theaterleute zusammen, mit der Idee, einmal etwas ganz Außergewöhnliches für das Scala zu machen. Von diesem Zeitpunkt an entstand ein „Wir“. Etwas Besonderes wollten wir schaffen, etwas noch nie Dagewesenes – aber das gab es in der Theaterlandschaft auch damals schon nicht mehr. Und so suchten wir drei nach der zündenden Idee. Völlig fasziniert von dem Gelände der alten Cluss-Brauerei, stiegen wir in den alten Fabrikräumen umher, über verrostete Maschinen, durch Schächte, die einzustürzen drohten, über Decken, in denen Löcher klafften wie Gletscherspalten. Wir waren auf der Suche nach dem besonderen Ort, der außergewöhnlichen Atmosphäre.
HIER SOLLTE DAS THEATERWUNDER STATTFINDEN
Es war Sommer und der alte Garten der Familie Cluss wartete nur darauf, entdeckt zu werden. Ein marodes, aber schweres Holztor verschloss nur scheinbar das unbeachtete Geheimnis vor dem schon damals existierenden Biergarten. Ein Teil dieses Tors hat später noch bestimmt zehn Jahre den Backstage-Bereich im Theatergarten vom Zuschauerweg abgetrennt und stand noch letztes Jahr in der Rolle des „Tors zur Stierweide“ auf der Kindertheater-Bühne – aber jetzt hing das Tor etwas wackelig in den Angeln und wartete darauf, geöffnet zu werden. Also traten wir drei in eine vergessene Gartenwelt – mitten in der Stadt. Verwunschen und still war es damals und unglaublich verwildert. Einen Weg gab es nicht. Aber unter den Efeu-Ranken, die auch über den Boden wuchsen wie Lianen, konnten wir große Steine erkennen, die einmal einen Weg gebildet hatten. Vorbei an einem winzigen, verfallenen Fachwerkhäuschen stiefelten wir in eine Wildnis, die einmal ein Park gewesen war.
Begleitet von einer völlig vernachlässigten Buchsbaumhecke, zerschrammt durch den Kampf mit Bergen von meterhohen Brombeerranken standen wir plötzlich auf einer kleinen Lichtung, in deren Mitte ein riesiger Kirschbaum residierte und mit seinen tief hängenden Zweigen fast die hoch gewachsene Wiese berührte.
Die Lichtung, auf der sich noch heute die Bühne befindet, war umgeben von undurchdringlicher Wildnis und im Hintergrund begrenzt durch die beiden riesengroßen Eiben, zwischen denen sich eine alte Laube befand, die man von der Wiese aus gut sehen konnte. Hier – hier musste es sein, hier sollte das Theaterwunder stattfinden.
GESCHICHTEN IN VIELEN FARBEN
Wir standen einfach nur da und jeder von uns hing seinen eigenen Fantasien nach. Durch alle drei Köpfe liefen verschiedene, vielleicht auch ähnliche Bilder, sie rasten, flogen und überschlugen sich. Denn der Garten sprach zu uns in seiner ganz eigenen verzauberten Sprache. Die Wiese bevölkerte sich mit Gestalten, die tanzten, sangen und Geschichten erzählten – dramatische und komische Geschichten vom Leben, von der Liebe und dem Tod, Geschichten in allen Farben, in allen nur erdenklichen Tönen und mit unglaublich viel Bewegung. Der Garten verlangte danach, bespielt zu werden, und wir drei standen da und wussten das sofort. Das Projekt wurde geboren. Von da an musste unfassbar viel organisiert, aber auch fantasiert werden. Eine kleine Tribüne wurde geliehen mit 80 Plätzen – wir konnten uns nicht wirklich vorstellen, dass jemals so viele Menschen diesen versteckten Ort aufsuchen würden, um dort Theater anzuschauen. Ein Weg wurde gerodet und die Wiese gemäht. Dank der Kreissparkasse bekamen wir das erste Geld!
VENUS, ADONIS UND DER EBER
Ein Stück musste gefunden werden. Ein archaisches Urstück sollte es sein, das aus dem Garten geboren war, die Wurzeln des Menschseins zum Thema hatte und den Theatergarten in ein Paradies verwandeln würde. Peter kam auf Shakespeares Sonett „Venus und Adonis“. Von da an übernahmen Christiane und Peter die künstlerische Arbeit.
Der Text wurde teilweise überarbeitet, dann galt es, die Schauspieler zu finden. In der lokalen Theaterszene kannte niemand diesen Garten, niemand wollte für so wenig Gage spielen, niemand konnte sich vorstellen, aus diesem Gedicht ein abendfüllendes Stück zu machen. Aber irgendwann war das Team komplett. Wir forschten und schufteten. Es war von Anfang an unser Anspruch, die Wahrhaftigkeit und Perfektion in der Bewegung zu suchen. Umgeben von der Lebendigkeit des Gartens, befanden wir uns eigentlich mitten in Schillers Gedanken über das Bewusstsein der brennenden Kerze auf der Bühne. Der Wind im Garten spielte mit den Bäumen, die Vögel hörten nicht auf zu fliegen, und jede Bewegung eines einzelnen Zweiges auf der Bühne war in ihrer Wahrhaftigkeit perfekt, war rein und durchlässig schlechthin. Kein Vogel, der während einer Szene über die Bühne flog, musste um die Wahrheit und Perfektion seines Flügelschlags kämpfen – er flog einfach nur. Hätte der Vogel mit der Bewegung seiner Flügel gelogen, ob aus Unfähigkeit, Eitelkeit, Narzissmus, oder falschem Anspruch an die Kunst… wäre diese Bewegung nicht wahr gewesen, dann wäre er vom Himmel gefallen.
IM EINKLANG MIT DER NATUR
Wir kämpften um die größtmögliche Intensität und Ehrlichkeit in der Theaterkunst im Einklang mit den Maßstäben des Gartens und im Widerspruch mit dessen Natürlichkeit. Denn nur die Wahrheit in der absoluten Künstlichkeit konnte mit dem Atem der uns umgebenden Natur Schritt halten. Der Garten war unsere Muse, unser Lehrer – und unser Gegner. Und der Garten nahm uns mit offenen Armen auf. Er schien begeistert von den verrückten Gestalten, die sich plötzlich seiner Schätze bedienten. „Venus und Adonis“ und der Garten wurden zum Geheimtipp des Sommers 1991.
Im Winter nach diesem ersten Sommer machten wir eine sehr gute Produktion im Scala. Aber dem Stück fehlte der Zauber, ihm fehlte der Garten. Irgendwann nach diesem Winter aßen wir drei zusammen eine Pizza und dachten: Warum verlassen wir uns nicht ganz auf den Garten, stecken unsere ganze Kraft nur in dieses Projekt und machen es richtig groß? Der Plan war zaghaft und wir noch voller Zweifel. Den ganzen Winter und das Frühjahr wollten wir unsere Kraft und unser Wissen zur Vorbereitung und zum Proben nutzen und im Sommer den Garten für die Ernte öffnen – Sommer für Sommer auf der Jagd nach der Einzigartigkeit. Jahr für Jahr gingen wir fleißiger an die Arbeit. Nie hätten wir damals gedacht, dass es unser Werk 25 Jahre später noch geben würde. Aber in jedem Sommer wurden mehr und mehr Menschen darauf aufmerksam und bald auch die Menschen, die über die erste Förderung hinaus das Projekt finanzieren wollten. Von da an war die Stadt Ludwigsburg und das Land Baden-Württemberg mit im Gartenboot.
DER GARTEN LIESS UNS NIE IM STICH
Der Garten ließ uns nie im Stich. Durch seine Lebendigkeit und die damit verbundenen ständigen Veränderungen forderte er uns heraus! Eine Herausforderung, die wir annahmen, um unseren ursprünglichen Theaterzielen immer mehr Verwirklichung zu ermöglichen. Als im Jahr 1999 der Sturm Lothar sowohl die kleine Laube zwischen den Eiben als auch etliche Bäume dem Erdboden gleich machte und dadurch eine zweite „Lichtung“ entstand, machten wir aus der Freifläche das Kindertheater. Auf diese Weise haben wir nicht nur all die Jahre überlebt, sondern sind immer aneinander gewachsen: der Garten, die Theaterkunst und wir. Wir waren oft bedroht und dachten, es würde jemand den Garten und das Theater allen anderen Gärten gleich machen wollen. Mit ein paar Waschbetonplatten, Springbrunnen, Kieswegen und pflegeleichtem Immergrün wäre das schnell möglich gewesen. Aber all die Jahre ist die Liebe der Zuschauer zum Theatergarten mit gewachsen, so dass seine Existenz inzwischen in den Herzen aller Stadt- und Kreisbewohner angekommen zu sein scheint.
Wir mussten das Theater und den Garten jahrelang schützen, gießen und düngen, so dass die Früchte, die dort gewachsen waren, jeden Sommer von allen Menschen geerntet und genossen werden können. Diese Früchte schmecken salzig, süß und würzig, bitter nach Luft und Liebe, nach Leben und Sommer und machen die Menschen manchmal für ein paar Stunden glücklich.